Perspectivia

([o. O. ][Potsdam ]den 21.[ November 1754] Im Widerspruch zu Preuss und Volz datiert Fester den Brief in den Dezember 1754. Dieses Datum ist jedoch unwahrscheinlich, da es sich beim vorliegenden Brief um eine Antwort auf Wilhelmines nach ihrer Ankunft am Vortag am 31.10. in Lyon verfassten Brief handelt {(#058)}. Friedrich II. lässt dem Markgrafen am 20.11. für die Nachricht danken, dass sie glücklich angekommen seien {(#072)}, ebenso Wilhelm {(#073)}. Es ist also wahrscheinlich, dass auch Wilhelmines Brief am 20.11. angekommen war und der König am folgenden Tag und nicht erst einen Monat später auf diese Nachrichten antwortete.

Meine teuerste Schwester
Ich habe Ihren Brief aus Lyon mit viel Vergnügen empfangen. Sie können glauben, dass der Bericht über Ihre Gesundheit das gewesen ist, was mir am interessantesten erschien. Sofern die Luft von Montpellier Sie gesund macht, werde ich diese Stadt als meine Heilige Stadt betrachten, und ich werde das glückliche Stück Erde preisen, auf dem sie liegt. Man erweist mir viel Ehre in Frankreich, wenn man meinetwegen wohlmeinend voreingenommen ist. Und es erweist sich für mich sicherlich als gut, dort nicht bekannt zu sein. Es gibt dort nur Sie, meine teure Schwester, die eine Illusion ihres Bruders schaffen könnte. Man wird sich einbilden, dass ich das Glück habe, Ihnen zu ähneln, und siehe da, mein guter Ruf ist gemacht! Ich zweifele nicht daran, dass Sie Ihre Zeit sehr angenehm verbringen, und dass Sie sich vom Geschwätz der Lebenden und den Denkmälern der Toten unterhalten lassen. Die tiefe Verehrung, die man für die Römer hat, sorgt dafür, dass man die Überreste und Ruinen ihrer großen Werke mit Hochachtung betrachtet, deren Reste Sie in der ganzen Provence finden werden, die ihnen so lange Zeit gehörte. Ich bin nicht erstaunt von der Szene, die Voltaire Ihnen vorgespielt hat. Ich erkenne ihn an seiner Einführung und an dem Akt, den er gespielt hat. Sein allergrößter Kummer kommt von einem Rechtsstreit mit dem Herzog von Württemberg, dem er 50000 Taler geliehen hat {Zu Voltaires prominentesten Schuldnern gehörten Carl Eugen Herzog von Württemberg (1728–1793) und Karl (IV.) Theodor Kurfürst von der Pfalz, von Pfalzbayern (1724–1799), cfr.: (#414) Longchamp, 1826, Bd. 2: 325.} Nach {(#409) Rossel, 1909} hat sich der während seiner Regierungszeit stets verschuldete Herzog von Württemberg über „620.000 livres“ von Voltaire geliehen u. dafür herzogliche Ländereien verpfändet, {s. dazu: (#410) Adam, 1907, Bd. 1: 193–310, bes.: 246; (#409) Rossel, 1909: 3–8; s. auch: (#412) Fauchier-Magnan, 1958: 204 ff.; (#413) Vann, 1986: 247 mit Anm. 25; (#411) Wilson, 1995: 207 ff. mit Anm. 37.} Bereits 1752 bittet Voltaire den amtierenden Herzog von Württemberg, die Summe von „4000 écus d'Allemagne“ anzunehmen, im Austausch „für eine Leibrente von 8 % auf den Kopf von Vater und Tochter, bzw. 10 % auf den Kopf des Vaters und 6 % auf den Kopf der Tochter; die Garantie w[i]rd durch eine Hypothek auf das Land des Herzogs in Frankreich geleistet“, {zitiert nach: (#415) Voltaire, 2011: 156 mit Anm. 393; (#409) Rossel, 1909: 12 ff.} Beurkundet wird das am 27. September 1752: {(#409) Rossel, 1909: 17}. Allerdings ist der württembergische Herzog ein säumiger Schuldner. 100.000 livres verleiht Voltaire an den Kurfürsten von der Pfalz. Voltaires Einkommen wird bereits von seinem ehemaligen Sekretär Sébastian G. Longchamps (1718–1793) für das Jahr 1749 auf etwas mehr als 74.000 livres geschätzt. {Dazu (#415) Voltaire, 2011: 174 mit Anm. 468; (#414) Longchamp, 1826, Bd. 2: 334.} Zur wirtschaftlichen Lage Mitte d. 18. Jhs. in Frankreich u. Einschätzung der Kaufkraft der Nicht-Adligen Bevölkerung {s. auch: (#417) Fourastié, 1950: 467-479.}. Der Herzog hat den Vertrag wucherhaft gefunden. Ich glaube, dass er ihm die Zinsen vorenthält. Und dies versetzt den Dichter in die Lage von Harpagon, der nach seiner Kassette [Geldschatulle] Molière karikiert mit der Figur des «Harpagon» in seiner Komödie «L’Avare» (dt.: Der Geizige) den zwar zu Reichtum gelangten, aber engstirnig, tyrannisch und geizig gebliebenen Bürger, der das Leben seiner beiden Kinder, Cléante und Élise, kujoniert. Er glaubt, mit Geld alles erreichen zu können, auch sich eine junge Ehefrau kaufen zu können. Harpagons lamentierende Ausrufe um seine gehütete «cassette», seine Geldschatulle, demaskieren ihn endgültig: «voir ma chère cassette» (5. Akt, 6. Szene).[CW] schreit. Es ist wirklich schade, dass dieser Narr, bei sovielen Begabungen, so boshaft und so ein Plagegeist ist. Aber es ist ein Trost für die Dummen, zu sehen, dass man oft mit soviel Geist trotzdem nicht mehr taugt. Ich kenne den Bischof von Tournay nicht, den Sie auf dem Cembalo begleitet haben, vielleicht ist es schade, dass er kein Stefanino ist, er würde eine Oktave höher singen. Ich hörte die Proben von Montezuma, und ich ließ die Schauspieler im Sinne des Stückes spielen. Ich denke, diese Oper würde Ihnen gefallen. Graun hat ein Meisterwerk geschaffen, es besteht ganz aus Kavatinen.
Ich nehme mir die Freiheit, Ihnen eine Uhr zu schicken, damit Sie die armen Deutschen in Ihrem schönen Provence-Klima nicht vergessen. Möge sie rechtzeitig, die Stunde anzeigen, da ich das Glück haben werde, Sie wiederzusehen, Sie zu hören und Sie zu umarmen; möge sie die Stimme haben, um Ihnen die Empfindungen der vollkommenen Zuneigung anzuzeigen, mit welcher ich bin,
Meine teuerste Schwester, Ihr getreuer Bruder und Diener

Friedrich.)