Perspectivia

(Mein teuerster Bruder

Da sind wir nun seit gestern in Marseille und das in vollkommenem Inkognito. Wie hatten eine anstrengende Reise von Avignon bis Aix-en-Provence gehabt; obgleich todmüde, mussten wir beim Duc de Villars zu Abend essen. Es gab dort nur Pariser und sehr gute Gesellschaft, wenn auch sehr klein, aber ich war derartig erschöpft, dass ich daraus keinen Vorteil ziehen konnte, und ich eine sehr schlechte Figur abgab. Er hat uns alle erdenkliche Aufmerksamkeit erwiesen und hat uns das Inkognito erleichtert, denn es gab den ausdrücklichen Befehl des Königs, uns hier in Toulon und in Antibes zu empfangen, als wenn er selbst es täte. Marseille ist die schönste Stadt, die ich in diesem Königreich gesehen habe. Es ist ein kleines Abbild von Paris, wegen des Menschenandrangs, die man in den Straßen sieht. Ich habe heute Morgen die Waffenkammer gesehen, die nur eine außergewöhnliche Anordnung hat, und die Seilerei, die eine unermessliche Galerie ist, getragen von Säulengängen. Dort fertigt man die Taue der Schiffe. Von dort aus sind wir im Hafen gewesen. Ich habe noch nie etwas gesehen, was mich so sehr beeindruckt hätte. Man hat uns aufgefordert, auf dem Meer auf einer bedeckten Feluke spazieren zu fahren. Wir blieben zwei Stunden, ohne dass es jemandem schlecht geworden wäre. Die Hitze war so stark, dass man kaum atmen konnte. Ich bin heute Abend zu Fuß am Hafen spazieren gegangen. Er ist von sehr schönen Häusern umgeben, welche jeweils ihre Läden haben. Das Pflaster ist aus Quadersteinen und Ziegeln. Man sieht dort Leute aus aller Herren Länder, die fremde Bekleidung ist ein entzückender Anblick. Wir reisen Samstag nach Toulon ab. Ich habe zu viel Verlangen Ihnen zu schreiben, mein teuerster Bruder, um es zu unterlassen, da ich keine größere Befriedigung habe, als Sie der Zuneigung und der tiefen Hochachtung versichern zu können, mit welcher ich auf ewig bin,

mein teuerster Bruder,
Ihre ergebenste und gehorsamste Schwester und Dienerin
Wilhelmine

Marseille, den 3. April 1755.)