Perspectivia

(Mein teuerster Bruder

Die Tage erscheinen mir wie Jahre, da ich mich seit 5 Wochen Ihrer teuren Nachrichten beraubt sehe. Trotz der unterhaltsamen Dinge, die ich hier erlebe, mein teuerster Bruder, wollte ich in Rom sein, wohin Ihre Briefe adressiert sind. Die Interessen des Herzens überwiegen bei mir immer; der teure Bruder herrscht da so despotisch, dass eine Zeile seinerseits mir viel kostbarer erscheint als alle die Reichtümer, die ich jeden Tag sehe. Wir werden Florenz übermorgen verlassen.
Ich bin wie ein Blindgeborener, der nach und nach das Sehen erlangt und folglich neue Vorstellungen. Das, was ich von Italien gesehen habe, übertrifft alles, was man mir davon erzählt hat. Ich wähne mich oft verzaubert und bilde mir ein, dass das, was ich sehe, nur eine Illusion ist. Aber ich übergehe die Sehenswürdigkeiten, die sich hier befinden, mit Schweigen und werde Sie mit dem Spiel der Sibylle unterhalten, was Monsieur de Richecourt mir zum Geschenk machte. Die Versammlung fand im Imperialino statt, in einem großen Saal. Es waren dort mehr als 100 Damen, alle prächtig aufgeputzt, und das Doppelte an Edelmännern. Man hatte stufenweise erhöhte Bänke zu beiden Seiten des Saales aufgestellt, auf welchen der Adel saß, und am Boden zwei Sessel für den Markgrafen und für mich. Gegenüber war die Sibylle oder vielmehr ein kleiner Junge von Stand, 8 Jahre[ alt], welcher zu seinen Seiten die 2 Ausdeuter hatte. Das waren der Komtur Buondelmonti und der berühmte Professor Lami. Ich wurde aufgefordert, der Sybille 3 Fragen zu stellen, welche mit dem ersten Wort antwortete, das ihr in den Sinn fiel. Die Auguren führten ein Gespräch über die Frage und deuteten die Antwort, die sie auf die Realität anwendeten. Sie ließen dabei Ihre Lobrede einfließen und erhoben Sie über Alexander und Aristoteles, um welche sich die Frage drehte. Sie führten mehrere Abschnitte des "Antimachiavel" an und redeten mit sehr viel Verstand und Beredsamkeit. Man benötigt sowohl das eine als auch das andere und [über dies ]sehr viel Gelehrsamkeit für dieses Spiel. Der langjährige Gesandte Großbritanniens in Florenz Sir Horace Mann (1706–1786) berichtete detailliert in seinem Brief, datiert: »Florence, May 10th 1755«, an den englischen Politiker und Schriftsteller Horace Walpole (1717–1797) über die Abendgesellschaft bei Richecourt und seine Begegnung mit Wilhelmine, die das Sibyllenspiel ihm gegenüber mokant kommentierte: «que c’était donner la torture au bon sens» [dt.: „eine Folter für den gesunden Menschenverstand“], {siehe: (#353) Walpole's Correspondance, 1960: 475-479, hier: 477.} Ich glaube, es könnte Ihnen vielleicht gefallen, da man die Gegenstände bestimmen kann, wie man will, zum Ernsthaften und zum Scherz. Als die Orakelsprüche beendet waren, ließ man zwei Priester kommen, um uns Impromptus zum Klang einer Laute zu singen. Ich gab immer noch die Inhalte[ vor]. Es ist eine überraschende Sache, dass diese Leute die Begabung haben, zwar mittelmäßige Verse vorzutragen[ Mai 1755], aber ohne jemals die geringste Ahnung von Poesie zu haben. Ich habe meinen Brief in Florenz nie vollenden können, ich wollte ihn auf dem Weg beenden, aber ich war derartig krank, dass ich nur mit sehr viel Mühe hier angekommen bin. Die Post ist bereits abgegangen, so dass ich diesen Brief nicht abschicken kann. Ich vertraue so stark auf Ihre Nachsicht, mein teurer Bruder, dass ich hoffe, dass Sie mir meine Ungezogenheit vergeben werden, Ihnen aufs Geratewohl zu schreiben; wie ich es mache, und dass Sie mir erlauben werden, Ihnen alle Tage eine kurze Nachricht zu schreiben, da dies meine ganze Befriedigung ist, und ich weder die Zeit noch die Kraft habe, einen langen Brief zu schreiben. Ich wäre fast vor Freude gestorben, vier der Ihrigen hier vorzufinden. Wie ich Sie beklage, mein teurer Bruder, noch immer von der Gicht gequält zu werden, und warum habe ich nicht das Glück, mir Ihre Übel aufzubürden. Ich hoffe, dass Sie [sich ]gegenwärtig davon erleichtert finden und dass ich bald beruhigt sein werde aufgrund guter Neuigkeiten Ihrerseits. Die Erschöpfungen sind derartig schrecklich hier, dass ich an dem Punkt gewesen bin, davon überwältigt zu werden, da ich einen starken Anfall von Kolik gehabt habe. Ich bin schwach, aber ich halte mich wieder aufrecht, und meinem Kopf geht es gut.

Rom, den 15. [Mai 1755 ]ich nutze diesen Tag, den ich der Erholung widme, um mich wieder mit Ihnen zu unterhalten, mein teuerster Bruder. Sie wären der am meisten zu beklagende Mensch der Welt, [sich ]Gesellschaft zu versagen, wie Sie [es ]machen, fänden Sie nicht in sich allein das, was Sie in anderen suchen. Ich habe viele Leute während meiner Reise gesehen und mich allseits informiert, ohne etwas finden zu können, was Ihnen zusagen könnte. Man hat mir in Frankreich und hier von einem äußerst geschätzten Mann erzählt, der nicht für alle Schätze des Universums aus Italien weggegangen wäre, wenn sein Freund Scipione Maffei noch leben würde, der aber gegenwärtig nach Frankreich zurückkehrt. Es ist einer namens Séguier. Ich hoffe, ihn in Bologna zu treffen und ich werde die Ehre haben, Ihnen zu melden, was ich von ihm denke. Ich habe La Condamine hier vorgefunden, der von reizendem Wesen ist. Er hat dieselben Beobachtungen gemacht wie ich, dass man in allen Kirchen Flachreliefs findet und Malereien zu den „Metamorphosen“, von denen mehrere äußerst unanständig sind. Unter anderem gibt es eine Leda in der Vorhalle von Sankt Peter. La Condamine sagte zu einem Abbate: "Ich würde gerne eine Inschrift unter dieses Flachrelief setzen." "Ach! was würden Sie dahin setzen?", antwortete der Abbate. "Ich würde dahin setzen: Herr, beschütze mich unter dem Schatten deiner Flügel." Es ist sehr schade für diesen Menschen, dass er taub ist, denn er ist oft zum Brüllen komisch «drôle comme un offre»: Die Oberseite der Truhen und Koffer war mit komischen, teils grotesken und zusammenhanglosen Figuren und Szenen, mit vielen Inschriftenverziert. Der Ausdruck ist eine Anspielung auf diese Bilder, die im Allgemeinen sehr lustig, sehr freudig und sehr seltsam sind. {Cfr.: (#197) Dictionnaire étymologique, 1842: 245.}. Ich werde morgen die Kardinäle Albani und Mellini sehen. Letzterer, Schutzherr der Deutschen, hat mir gesandt, was man den „Korb“ Zu den Willkommensgeschenken des Botschafters von Maria Theresia in Rom, Kardinal Mellini, bestehend aus einem Duzend „Obst=Körben, worin das niedlichste der damaligen Jahres=Zeit sich befande“ berichten die Münchner-Zeitungen vom 9. Juni 1755. {Siehe: (#225) Münchner-Zeitungen 1755: 363}. {In Rom wurde unter dem Datum vom24.Mai über das ankommende Markgrafenpaar berichtet: "Em[m]o Millini Ministro Plenipotenziario della Maestà dell’Imperatrice Regina d’Ungheria, e Boemia mandogli il giorno dopo il loroarrivo un regalo di 12 portate di preziosicomestibili, con una vitella mongana viva […]", in: (#291) Diario ordinario, 1755: 14.} {Zu den Berichten im röm. "Diario ordinario" ausführlich: (#280) Müssel, 1975: 177–186, vor allem: 180.} {Siehe auch: (#7) Volz, 1924–1926, Bd. 2: 300, Anm. 5.} nennt. Man erweist mir die größten Ehren hier. Aber der Markgraf besucht die Kardinäle nicht und wird den Papst auch nicht besuchen, da er kein Mittel hat, die Angelegenheiten gütlich beizulegen. Indessen haben sich alle übrigen Fürsten und der Adel bei ihm anmelden lassen. Man drängt mich zu schließen, da die Post abgehen wird. Ich bin mit aller erdenklichen Zuneigung und Hochachtung,

mein teuerster Bruder,
Ihre ergebenste, gehorsame Schwester und Dienerin

Wilhelmine

[Florenz, 5. Mai 1755 ][und ]Rom, den [14.-]16. Mai1755.)