die schreckliche Kälte, welche hier geherrscht hat, hat mich daran gehindert, die Ehre zu haben, Ihnen zu schreiben. Ich kann mich mehr als jemals zuvor rühmen, ein großer Hauptmann zu sein, denn in der Tat habe ich einen Winterfeldzug unternommen. Meine Gesundheit hat die Nachwehen davon gar sehr verspürt, ich bin noch immer äußerst marode. Die Kälte ist derjenigen des tiefsten Winters gleich gewesen. Die Rhône und die Durance sind gefroren. Überdies ist das Holz so knapp, dass man sein Gewicht mit Gold aufwiegt; die Häuser ganz mit Papier gepflastert; und um sich zu wärmen, hat man nur Kohlenglut, die zu Kopfe steigt; so dass es scheint, als sei man betrunken. {Dieser Winter war auch in Brandenburg ungewöhnlich kalt, (siehe den Brief #107 vom 17.02.1755 von August Wilhelm), und wird in verschiedenen Quellen mit dem besonders kalten Winter 1739/40 verglichen.} {Der Winter 1739/40 war einer der strengsten Winter seit der Erfassung klimatischer Daten. Er begann bereits am 24. Oktober 1739 und dauerte „bis 13. Juni; schon am 27.November wurde in Dresden -20 ¼°R [= -25°C] gemessen; noch im April waren in Deutschland die Brunnen gefroren, und erst am 13. Juni trat in Deutschland der letzte Frost auf“. Zitiert nach: (#155) Wehry, 2006: 2.} Der Extremfrost traf den gesamten europäischen Kontinent. Die Flüsse in Mittel- und Osteuropa waren vereist, die Ostsee, die Lagune Venedigs wie auch der Golf von Genua waren zugefroren. Die Ostsee begann erst Anfang April 1740 wieder aufzutauen. Der Frost forderte Hunger- und Kältetote. {Siehe dazu: (#132) Marci, 1740.} {Weiter: (#133) Schenk, 1741–1742.} Ich versichere Ihnen, mein teurer Bruder, dass ich niemals so gelitten habe wie hier. Ich schlafe mit Pelzmantel und trotzdem sterbe ich vor Kälte. Diese Unannehmlichkeit hat den Duc de Richelieu daran gehindert, hierher zu kommen, da er den Fluss nicht überqueren konnte. Heute fängt es an zu tauen, was mich hoffen lässt, dass ich am Ende meiner Mühen bin und der Winter seinem Ende entgegengeht. Verzeiht, mein teuerster Bruder, wenn ich Sie mit diesen Kleinlichkeiten unterhalte; kann man von einem gefrorenen Gehirn Besseres verlangen? Man hat mir heute ein Bonmot des Marquis des Essarts erzählt. Mit dem Tode ringend, hatte er bei sich zwei Ärzte, welche ihm jeweils den Puls fühlten. Er sagt: „Ich sterbe wie unser Herr[ und Heiland], er verschied zwischen zwei Schurken, und ich, ich sterbe zwischen zwei Eseln.“ Es ist ein Glück, in einem derart kritischen Augenblick so scherzen zu können. {Das im frz. Originalbrief (#093) von Wilhelmine geschriebene «… plaisanter…» spielt möglicherweise an auf (#388) Boureau-Deslandes, 1712 [1755] philosophische Abhandlung: «Réflexions sur les grands hommes qui sont morts en plaisantant», [dt. Übersetzung (#389), Boureau-Deslandes, [ca.] 1750: „Sammlung vermischter Gedanken über grose Leute welche scherzend gestorben sind.“ Das Buch wurde wegen seines libertären Inhalts 1758 auf den Index gesetzt. [GB/reh] Ich bezweifele, dass Voltaire es ebenso täte. Er hat sich nach Genf zurückgezogen, um sich in den Schutz der «Pucelle[ d’Orléans]» zu begeben. Sie wird ihm ebenso schicksalhaft werden, wie einst den Engländern, und könnte wohl dasselbe Schicksal erleiden, das sie bereits hatte. Ich habe gestern zwei Schotten gesehen, Wachen des Prinzen Edward 1745/46 organsierte Charles Edward Stuart einen Feldzug nach Schottland („Zweiter Jakobiteraufstand“), um den Thron für die Stuarts wieder zurück zu gewinnen. Er wurde mit seiner Armee vernichtend geschlagen [Schlacht von Culldon, 1746], floh zurück nach Frankreich und hielt sich u. a. auch in Avignon auf. {Cfr.: (#129) Klose, 1842.} {Siehe auch: (#93) Pittock, 2004.}. Ihre Bekleidung ist äußerst eigentümlich. Mylord Dumbar [Dunbar ]behauptet, es wäre die der alten Römer, und ich glaube es auch. Es sind harte Männer, die sich nur von einem bisschen Mehl mit Wasser gemischt ernähren und welche die Unbilden der Luft aushalten, ohne davon beeinträchtigt zu werden. Sie baden sich alle Tage in der Rhône und finden daran noch Gefallen, dass sie ganz eiskalt ist. Mylord hat mir geschworen, dass er nicht weiß, wo der Prinz ist. Viele vermuten, dass er in England ist. Ich werde morgen Monsieur Staffort [Stafford ]sehen, der sein Vizestatthalter gewesen ist, und einen anderen Schotten, der ihn auf seinem Feldzug nach Schottland begleitet hat. Ich machte auch Bekanntschaft mit einem gewissen Monsieur de Robert, der an den letzten Feldzügen Karls XII. teilgenommen hat. Er ist ein Neffe des berühmten Folard. Man schätzt ihn gar sehr hier, da er sich im Dienste Frankreichs sehr ausgezeichnet hat. Er ist beim Tode Karls XII. gegenwärtig gewesen, damals war er Ingenieurhauptmann. So wie er den Fall erzählt, ist er ganz verschieden[ von dem], was man in Einzelheiten davon erzählt hat. Ich habe ihn gebeten, mir den Plan des Angriffs zu geben, um ihn Ihnen zuzuschicken; ich werde diese Ehre haben, sobald er ihn vollendet hat. Dieser arme Mensch hat das Aussehen eines wandelnden Gerippes, da er von Schüssen durchsiebt ist und eine derartig schwache Gesundheit hat, dass er gezwungen gewesen ist, den Dienst zu verlassen. Ich habe mich tüchtig nach den Plänen und Schriften seines Oheims bei ihm erkundigt, aber er hat überhaupt nichts davon, weil der Maréchal de Belle-Isle alles geerbt hat. Sie sehen, mein teuerster Bruder, dass ich keinerlei Gelegenheit versäume, um Ihnen zeigen zu können, wie sehr ich an Sie denke. Sie sind immer mein Antrieb, und ich zähle mich nur zu den Glücklichen, sobald ich Sie mündlich werde von der Zuneigung und der tiefen Hochachtung versichern können, mit welcher ich auf ewig sein werde,