Ich habe die Ehre gehabt, heute einen Ihrer Briefe zu erhalten, der lange auf dem Weg gewesen ist, da er vom 1. Februar [1755 ]ist. Ich bin entzückt, daraus das Fortbestehen Ihrer kostbaren Gesundheit zu ersehen. Die Moral, welche Sie darin predigen, mein teuerster Bruder, kommt mit so viel Liebenswürdigkeit daher, dass sie die Allerschläfrigsten aufwecken würde. Ihre Geschichte ist bezaubernd, voller Wahrheit und Aufrichtigkeit, weil Sie darin die Leichtfertigkeit der Männer zugestehen, welche der Großteil nicht zugeben will. Sie haben ganz Recht, zu sagen, dass man sich daran gewöhnen sollte. Man würde sie sogar vergeben können, würde die Liebe nicht die Freundschaft vertreiben. Aber unglücklicherweise verbannt jene Leidenschaft jede andere Empfindung, und oft hält eine Geliebte das allerunbeständigste Herz fest[ in Händen]. Ich wüsste mich über meinen Schmetterling nicht zu beklagen, der hier von einer wahrhaft stoischen Weisheit ist. Allerdings stellt man diese auch nicht auf die Probe, da es niemanden gibt, der fähig wäre, ihm Liebe einzuflößen; und außerdem sind Liebeshändel von so viel Dornen begleitet, dass es gefährlich ist, auf sie einzugehen. Ich kümmere mich nicht um die vorübergehenden Leidenschaften. Aber ich bekenne Ihnen, dass ich jene sehr fürchte, die ernsthaft werden können. Das Schicksal einer Frau ist sehr unglücklich in eben diesen Fällen. Die Erfahrung, die ich darin bereits einmal gemacht habe, hat es mich doppelt begreifen lassen. Vor allem, wenn man es mit üblen Charakteren zu tun hat, fähig, einem die Ruhe zu stören und die eines ganzen Landes. Da man davon überall und vor allem hier betrübliche Erfahrungen sieht[!], hoffe ich, dass ich mich nicht mehr in jenem Zustand befinden werde und dass man Schmetterling bleiben wird. Dies ist alles, was ich begehre. Monsieur de Montesquieu ist, nach dem was man sagt, vor Geiz gestorben, da er kein Holz kaufen wollte, um bei sich zu heizen. Er wird allgemein vermisst. Sein Ende wäre Voltaires würdig. Der Verstorbene hatte das Leben von Louis XI. geschrieben, er befahl seinem Sekretär, den Entwurf zu verbrennen. Als er einige Tage danach die berichtigte Handschrift fand, glaubte er, dass sein Sekretär vergessen habe, was er ihm befohlen hatte und warf sie ins Feuer. Er war verzweifelt, da er sein Versehen bemerkte, dass er in einem Augenblick die Arbeit mehrerer Jahre verloren hatte. Die Berichte um ein von Montesquieu selbst versehentlich verbranntes Manuskript, in dem er über den französischen König Ludwig XI. geschrieben haben soll, kamen vermutlich schon zu seinen Lebzeiten auf. Da Montesquieu im Februar 1755 gestorben war, erhält die Erzählung durch Wilhelmine einen neuen Aspekt und vollendet sich so zu einer pointierten Anekdote. {Dazu: (#167) Montesquieu, 1768: 61–65, hier: 64.} {Weiterführend: (#165) Venturino, 2010: 147–161, hier: 147 f.} Das Wetter beginnt, sich wieder zum Schönen zu wenden: Es ist hier gegenwärtig so warm wie im Monat Mai. Die Luft ist außerordentlich frisch und kräftig; sie greift sehr die Augen und Zähne an. Jedoch ist sie gesund und ich glaube, dass sie auf längere Sicht meine Gesundheit wiederherstellen können würde, wenn die Vorkehrungen für den Winter besser wären, da ich mich von den Kopfschmerzen sehr befreit befinde. Ich empfehle mich weiterhin, mein teuerster Bruder, Ihrem kostbaren Angedenken, nur nach dem glücklichen Augenblick strebend, da ich selbst Sie der liebevollen Zuneigung und der tiefen Hochachtung werde versichern können, mit welchen ich bis ins Grab sein werde,