Ich nutze diesen Moment, mein teuerster Bruder, um Ihnen zu versichern, dass inmitten
der Klippen, der Stürme und der Anstrengungen mein Herz mehr bei Ihnen als bei mir
ist. Ich schreibe Ihnen diesen Brief aus San Remo. Unsere Reise zu Lande von Marseille
bis nach Antibes ist eine der höchst anstrengende gewesen. Wir haben uns einen Tag
in Toulon aufgehalten. Ich habe dort die Kriegsschiffe und die Galeeren gesehen. Sie
kennen die Lage des Ortes und des Hafens besser als ich, die ich dort gewesen bin,
also erzähle ich Ihnen davon nichts. Was die Schiffe anbelangt, so sind sie in schlechtem
Zustand. Man baut davon drei, die man mangels Geldes nicht vollenden kann. Die Offiziere,
Matrosen und alle, die zur Marine gehören, sind seit 7 Monaten nicht bezahlt worden.
Die Betrügereien und die Unordnung sind außerordentlich. Es ist nicht begreiflich,
wie die Monarchie fortbestehen kann, bei der allgemeinen Unordnung, die dort herrscht.
Ich war in der Marineakademie, welche mir recht gut eingerichtet erschien. Man hat
in meiner Gegenwart die jungen Adligen exerzieren lassen, nach den neuen in der Armee
eingeführten Änderungen. Ich fand, dass sie es für Franzosen recht gut machten. Wenn
das ganze Heer es ebenso macht, wäre es mehr wert als die Österreicher im letzten
Krieg. Auf dem Weg nach Antibes speisten wir in einem Städtchen namens Cannes. Die
Insel Sainte-Marguérite ist davon nur durch einen kleinen Meeresarm getrennt. Wir
trafen die Entscheidung, dahin zu gehen, um dort etwas Genaueres über die Eiserne
Maske zu erfahren. Der Befehlshaber der Festung führte mich in den Raum, oder besser
gesagt in den Kerker, worin er so viele Jahre verbracht hat. Davon werde ich ein anderes
Mal die Ehre haben, Ihnen die Beschreibung zu liefern. Hier ist das, was ich von mehreren
glaubwürdigen Personen vernommen habe, welche von ihren Eltern, Zeitgenossen der Ereignisse,
in Kenntnis gesetzt worden sind. Monsieur de Saint-Mars war Befehlshaber in Exilles,
nahe bei Pinerolo. Louis XIV. gab ihm die Aufsicht über Sainte-Marguérite im Jahre
1693 oder 1694. Monsieur Feri, Großvater des Obristen, mit dem ich gesprochen habe,
war ein enger Freund von Saint-Mars. Dieser war bereits Bewacher des Mannes mit der
Maske und führte ihn mit sich in seinen Amtssitz. Auf der Durchreise durch Fréjus,
wo dieses alles mir bereits bestätigt worden ist, fehlte es Saint-Mars an Geld. Feri
kam, um sich zu ihm zu gesellen, sah und sprach den Mann mit der Maske. Er und andere,
die ihn gesehen haben, sagen, sie glaubten, dass es eine Frau wäre, dass er kleine
und feingliedrige Hände hatte, und die Haut äußerst weich und glatt wäre, wiewohl
sie eine Spur ins Braune ging. Saint-Mars wurde 1 oder 2 Jahre später zum Statthalter
der Bastille ernannt und führte den Mann mit der Maske mit sich. Er bediente ihn selbst.
Niemand wagte es, ihn zu sehen, außer einem Priester, der an die schrecklichsten Eide
gebunden war. Als er in Paris war, schlug man 6 jungen Fräulein von Rang, aber arm,
vor, sich mit ihm einzusperren. Mademoiselle Olivier, welche unter diesen war und
jenen Vorschlag zurückwies, hat diesen besonderen Umstand selbst Monsieur de Marsillan
erzählt, von dem ich es weiß. Es hat einige darunter gegeben, die ihn [den Vorschlag ]angenommen hatten. Man behauptet, dass dieser berühmte Gefangene Louis XIV. überlebt
hat, und dass der Duc d’Orléans ihn in seinem Gefängnis besucht hat. Die Geschichte
mit dem Silberteller erscheint mir äußerst zweifelhaft, angesichts der Lage des Kerkers.
Die Meinungen sind geteilt. Die Einen glauben, dass es der Comte de Vermandois gewesen
ist; die Anderen, es war die erste Dauphine, Prinzessin von Bayern. Letztere erscheint
mir außerhalb aller Wahrscheinlichkeit.
Wir sind mit günstigem Wind aus Antibes abgereist, er änderte sich, als wir nahe bei
Monaco gewesen sind, was uns veranlasste, dort an Land zu gehen. Wir haben im Schloss
gewohnt, das entzückend ist. Wir haben dort Orangenbäume und Palmen an der ganzen
Küste gesehen. Trotz des Windes und des Unwetters, sind wir mit großer Mühe hierher
gelangt, mit Ruderkraft; wo wir werden warten müssen, bis der Wind günstig wird. Mir
geht es gut, solange ich auf der See bin, aber sobald ich auf dem Lande ankomme, suchen
mich einige Stunden danach Koliken und Brechreize heim, welche einige Stunden andauern,
wonach [bei ]mir nur die Herzschmerzen bleiben. Ich bin mit aller erdenklichen Zuneigung und Hochachtung,