Ich bin seit dem 27. hier. Die Straße, die hierher führt, scheint der Weg zur Hölle
            zu sein. Nie habe ich für die Familie 
 der Appier etwas übrig gehabt, aber jetzt hasse ich sie tödlich, seit ich die von
            ihr erbaute scheußliche Straße gekostet habe. Via Appia (Appische Straße), Hauptstraße zwischen Rom und Capua sowie ganz Unteritalien,
                  wurde ca. 312 v. Chr. durch den röm. Zensor Appius Claudius Caecus (um 340 v. Chr.
                  – 273 v. Chr.), nach dem die Straße benannt wurde. Sie wurde i. d. Spätantike u. im
                  frühen Mittelalter zwar weiter genutzt, allerdings machte der mangelnde Unterhalt
                  der antiken Bauwerke u. Grabmäler entlang der Straße sie zunehmend unbefahrbar. Am
                  Ende des Mittelalters liegt die Via Appia antica bereits abseits der Städte; im 14.
                  u. 15. Jahrhundert findet der Verkehr auf der neuen Trasse, der Via Appia Nuova, statt. Erhaltungseingriffe
                  finden u. a. im 18. Jh. während der Regierungszeit Karls VII., König von Neapel und
                  beider Sizilien statt. {Siehe auch: (Brief #178 (178_src) ) vom 7. Juli 1755 [mit
                  Anm. 1 in der dt. Übersetzung].} Noch mehrere Tage danach war ich krank und außerstande auszugehen. Ich finde Neapel
            ganz anders, als man es mir geschildert hat. Die Stadt ist groß, die Straßen sind
            ziemlich gut angelegt, aber sehr schlecht gebaut. Man sieht hier nicht das geringste
            Baudenkmal. Die Kirchen lassen sich mit denen von Rom und Florenz nicht vergleichen.
            Man glaubt sich in einem Tollhause. Das Volk, äußerst zahlreich, schreit Tag und Nacht
            derart, daß man nicht schlafen kann und im Kopfe wirr wird, so daß man nicht weiß,
            was man tut.
         
 Am Tage nach meiner Ankunft war eine große Prozession, der der König beiwohnte. Da
            ich krank war, konnte ich sie nicht sehen. Der König beschäftigt sich mit Jagd und
            Fischfang, während die Königin alle Geschäfte leitet … Gestern war ich in Pozzuoli,
            in Baja und [Cumae]; ich habe zwei Tage dort verbracht. Seit langem habe ich keine so lebhafte Freude
            empfunden. Vom Elysium kam ich in den Tartarus und besuchte alle Wohnstätten der Alten.
            Nichts ist bewundernswerter als die Piscina des Lucullus Wilhelmine verwechselt hier möglicherweise die "Piscina di Lucullo" mit der am Kap
                  Misenium liegenden "Piscina mirabilis". {Erwähnung in Wilhelmines Reisebericht "Voyage
                  d‘Italie": #60 Tagebuch, 2002: 65, Piscina Mirabile.} {Zu Wilhelmines Aufenthalt
                  in Neapel u. den antiken Stätten: #88 Kammerer-Grothaus, 1998: 7-41.}Octavian (63
                  v. Chr.–14 n. Chr., seit 27 v. Chr. Kaiser Augustus) ließ, um seine Kriegsflotte (classis praetoria Misenensis)
                  möglichst rasch versorgen zu können, nahe bei Misenum (am östlichen Rand der Halbinsel
                  am Golf von Neapel) ein riesiges, unterirdisches Wasserreservoir, die Piscina mirabilis,
                  anlegen. Die Zisterne, nach Petrarca das "wunderbare Becken", wird durch 48 Säulen
                  gestützt und soll 12.600 m³ Wasser fassen. In der später von Augustus dort angelegten
                  Siedlung ließen sich, auch infolge der politischen Machtverschiebung im Römischen
                  Reich, vermögende römische Politiker und Bürger private Landsitze gestalten, wie auch
                  der Konsul Licinius Lucullus (ca. 117[?] v. Chr.–56[?] v. Chr.). Dieser hatte mehrere
                  Villen zwischen Rom und Neapel, ließ sich dort auf "unterirdischem Wege Meerwasser
                  zu seinem Villengrundstück leiten, um dort ein künstliches, mit marinen Fischen besetztes
                  Becken mit frischem Wasser zu versorgen [...]." {Zitiert nach: #203 Schmölcke/Nikulina,
                  2008: 36–55, hier: 48.} {Beschreibung, cfr.: #199 Loffredo, 1570, Kap. 24.} {Grundlegend:
                  #200 Chiappella, 1965: 146–160.} {Cfr.:#202 Higginbotham, 1997.} {Cfr.: #201
                  Kunze, 1996: 163, Anm.: 79, besonders auch: Anm. 82.} , die noch völlig erhalten ist. Achtundvierzig Säulen tragen ungeheure Wölbungen;
            sie bilden sechs Gänge. Weiterhin erblickt man die Ruinen seines Palastes, aber es
            ist unmöglich, sich irgendeinen Begriff von dem Bauwerk zu machen … Aus allem, was
            ich sah, ergibt sich, daß die Alten sehr im Schatten lebten. Ihre Wohnungen erhielten
            nur von der einen Seite Licht; auf der anderen lehnten sie sich an den Felsen … Fast
            überall finden sich unterirdische Räume, die hierhin und dorthin führen. Sie zerfallen
            in mehrere Kammern und Gänge; manche sind drei Stockwerke hoch. Man hat ihnen Namen
            gegeben, aber ich glaube, man 
 wird nie erfahren, wozu sie gedient haben und warum sie erbaut sind. La Condamine
            und ich sind auf allen Vieren hinab gekrochen und auf Leitern hinaufgestiegen. Kurz,
            wir haben uns durch unsere Nachforschungen unsterblich gemacht und dies gefährliche
            Wagnis als Abstieg in die Unterwelt bezeichnet. Nur sehr ungern verließ ich diese
            Stätten. Gehörten sie mir, ich machte sie zum Kleinod, und man sollte in ihnen manches
            entdecken, was Aufschluß gäbe, aber statt zu entdecken, zerstört man. Für eine elende
            Statue vernichtet man Dinge, die anderswo unschätzbar wären …
         
Herculaneum entspricht den Schilderungen nicht. Ich war dort. Es ist ein Bergwerk, dessen Wände die Lava bildet. Man erkennt nicht das Geringste. Während ich dort war, wurden zwei schöne Mosaikfußböden entdeckt. Aus zwei in der Nähe stehenden weißen Marmorsäulen und der Größe der Fußböden schloß ich, daß es ein Tempel gewesen ist. In Baja hat man neuerdings auch ein Grab entdeckt, das, wie die Inschrift zeigt, der Familie Popilia gehörte. Man fand dort zwei einbalsamierte Leichen in prächtigen Gewändern mit Goldborten ohne Seideneinschlag. Aber man grub sie so unvorsichtig aus, daß sie zerfielen. Ich sah dieses Grab; es ist so gut erhalten, als wäre es neu, und voll antiker Malereien. Hätten wir Werkzeuge gehabt, wir hätten sie mitnehmen können. Ich hätte es wie der heilige Franciscus {Vgl. hierzu: #7 Volz Briefe, 1926, hier: Bd. 2: 306 mit Anm. 2. Volz sieht in der Nennung des heiligen Franziskus "[w]ohl eine Verwechslung mit dem heiligen Crispinus [?–287], der Leder stahl, um daraus für die Armen unentgeltlich Schuhe anzufertigen".} gemacht und sie gestohlen, um sie Dir zu schicken.